Wirtschafts-, Finanzpolitik & Recht

Industrie: Der konjunkturelle Tiefpunkt ist durchschritten

IV-GS Neumayer: Konjunkturstärkende Maßnahmen rasch umsetzen, Kurzarbeit auch im Herbst ermöglichen, Belastungen vermeiden – IV-Chefökonom Helmenstein: Schuldenrückführung bis 2030 ausgabenseitig erreichbar

„Der konjunkturelle Tiefpunkt ist durchschritten, aber wir sind noch nicht über den Berg“, fasste Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), heute, Dienstag, in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit IV-Chefökonom Christian Helmenstein die aktuelle wirtschaftliche Situation zusammen:

  • Seit Mai nimmt die Wirtschaftsleistung wieder zu. Für Österreich erwartet die Industriellenvereinigung aber heuer gegenüber der April-Prognose unverändert einen BIP-Rückgang um ‑7,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
  • Die Industrie gehört mit einem Schaden von über 5 Mrd. Euro zu den drei von COVID-19 am stärksten betroffenen Wirtschaftsbereichen, nach den sonstigen Dienstleistungssektoren (persönliche Dienstleistungen, Transport, Kultur, Sport) sowie der Tourismuswirtschaft (Gastronomie, Beherbergung).
  • Das Maß an wirtschaftspolitischer Unsicherheit weltweit hat einen historischen Höchststand erreicht und liegt aktuell doppelt so hoch wie während der Finanzkrise 2008/2009. Unternehmen reagieren darauf mit Investitionszurückhaltung und private Haushalte mit Konsumzurückhaltung. Die Ausrüstungsinvestitionen gehen voraussichtlich um 12 Prozent zurück, die Sparquote der privaten Haushalte verdoppelt sich beinahe von gut 7 auf mehr als 13 Prozent.

„Unsicherheit ist derzeit allgegenwärtig. Umso dringender brauchen Unternehmen Planungssicherheit, wie es mit den Unterstützungsmaßnahmen weitergeht“, betonte Neumayer, der vor allem für die fortgesetzte Möglichkeit bzw. ein neues Modell der „Corona-Kurzarbeit“ ab Herbst plädierte. Dabei seien drei Dinge entscheidend: „Erstens Praxistauglichkeit und möglichst geringer Bürokratieaufwand. Zweitens sollen Betriebe auch weiterhin nur für tatsächlich geleistete Arbeitszeit aufkommen müssen. Kosten für Nichtleistungszeiten, insbesondere der Sozialversicherung, sind in der aktuellen Situation absolut nicht tragbar. Und drittens sollten die Qualifizierungselemente bei der Kurzarbeit gestärkt werden. Hieraus ergäbe sich letztlich ein langfristiger Nutzen.“ Überdies müsse klar sein, dass ein nachhaltiger Weg aus der Krise nur über ein investitionsgetriebenes Wachstum führen kann. „Mit Maßnahmen wie der Investitionsprämie wurden hier bereits wichtige Schritte angekündigt. Nun muss die rasche und praktikable Umsetzung folgen“, so Neumayer.

Weitere konjunkturstärkende Maßnahmen nötig, Diskussionen über altbekannte Belastungsideen höchst entbehrlich

Auch müssten zeitnah weitere Maßnahmen folgen: „Wir schlagen schon seit Längerem vor, die im Regierungsprogramm festgelegte Senkung der Körperschaftsteuer auf 21 Prozent zeitnah umzusetzen. Und wir bleiben dabei: Dies wäre ein starkes wie nachhaltig wirksames Instrument, um Investitionen und damit Beschäftigung anzukurbeln“, so Neumayer. Mit Verwunderung registriere man Diskussionen über altbekannte Belastungsideen wie Arbeitszeitverkürzung, neue oder höhere Steuern. „All das käme geradezu einer Kampfansage an Beschäftigte und Unternehmen gleich. Den Faktor Arbeit massiv zu verteuern können wir uns ebenso wenig leisten, wie Substanzsteuern, die letztlich Betriebe sowie den Mittelstand – und damit Arbeitsplätze – treffen würden. Arbeitsplatzvernichtung mit Ansage führt unweigerlich in die konjunkturelle Sackgasse“, stellte der IV-Generalsekretär unmissverständlich klar.

Die Ergebnisse der aktuellen IV-Konjunkturumfrage

„Das IV-Konjunkturbarometer, welches als Mittelwert aus den Beurteilungen der gegenwärtigen Geschäftslage und der Geschäftslage in sechs Monaten bestimmt wird, verbessert sich von -19,8 Punkten auf -9,0 Punkte. Ein solcher Punktezuwachs zwischen zwei aufeinanderfolgenden Terminen tritt zwar nicht häufig auf, ist aber nicht außergewöhnlich“, führte IV-Chefökonom Christian Helmenstein aus. Dabei könnten die Verläufe der beiden Teilkomponenten des Konjunkturbarometers kaum gegensätzlicher ausfallen. War es zum vorigen Termin die beispiellos negative Einschätzung der Geschäftsaussichten, welche den Absturz des IV-Konjunkturbarometers bewirkte, während die Einschätzung der Geschäftslage um „lediglich“ 21 Punkte zurückging, ist es nun umgekehrt. Die aktuelle Geschäftslage liegt bei einem Minus von 44 Punkten, während die Geschäftserwartungen auf Sicht von sechs Monaten einen sprunghaften Zuwachs von 66 Punkten einschließlich eines Vorzeichenwechsels aufweisen. Die Erwartungskomponente steigt auf +12 Punkte und markiert damit den höchsten Wert seit dem ersten Quartal 2018. Selbst auf dem derzeit weit unterhalb der Normalauslastung liegenden Aktivitätsniveau erwarten 21 Prozent der befragten Unternehmen nicht nur keine Verbesserung, sondern sogar eine Verschlechterung ihrer Geschäftslage auf Sicht eines halben Jahres. Optimistisch gestimmt sind 33 Prozent. „Dieses Ergebnis unterstreicht die Erwartung, dass die Erholung der Wirtschaft einen asymmetrischen V-förmigen Verlauf nehmen wird. Auf den steilen Absturz folgt ein Aufwärtstrend mit anfänglich recht hoher Dynamik, der aber zunehmend verflachen wird“, so IV-Chefökonom Helmenstein.

Die Haltung zu den Geschäftsaussichten dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Einschätzung der Gesamtauftragsbestände von +17 auf -18 Punkte abreißt, nachdem sich gerade die Auftragsbestände über lange Zeit hinweg – nicht zuletzt während der beiden schwächeren Vorjahre – als recht robust gezeigt hatten. Noch schlechter wird die Komponente der Auslandsaufträge bewertet, die von +9 Punkten auf -21 Punkte zurückgeht. Das bedeutet, dass der Auftragsbestand von einer Mehrheit als so niedrig eingeschätzt wird, dass eine Normalauslastung auf Sicht der kommenden drei Monate nicht erreichbar sein wird. Zudem lehrt die Erfahrung aus 2008, dass manche Aufträge gekürzt, verschoben, preislich nachverhandelt oder gestrichen werden könnten. Dieser Vorbehalt gilt, wenngleich in geringerem Ausmaß, nach wie vor.

Aus diesen Gründen wird die Produktion, nur äußerst vorsichtig weiter hochgefahren. Der saisonbereinigte Indikator für die Produktionserwartungen für die kommenden drei Monate legt zwar in der Dynamik durchaus spektakulär um 52 Punkte zu, doch reicht dieser Zuwachs gerade aus, um wieder in positives Terrain von +3 nach -49 Punkten vorzudringen. Damit zusammenhängend hat sich der Indikator für den Beschäftigtenstand zwar etwas von -37 Punkten auf -22 Punkte verbessert, bleibt aber negativ. Der Trend hält somit zwar an, flacht aber ab. Mittels „Corona-Kurzarbeit“ konnte – bei hohem, budgetären Aufwand – ein ansonsten dramatischer Anstieg der Arbeitslosigkeit vermieden werden. Jedes 25. Industrieunternehmen will seinen Personalstand sogar ausweiten, was das Ausmaß des schon zuvor bestehenden Fachkräftemangels unterstreicht, der sich im Wiederaufschwung wachstumshemmend auswirken wird.

Der Anteil der Unternehmen, welcher mit einem absoluten Rückgang der erzielbaren Verkaufspreise rechnet, nimmt weiter zu (Saldo -25 nach ‑16). Die je nach Wirtschaftszweig, mitunter sogar je nach Produktportfolio zum Teil stabile, zum Teil katastrophale Mengenentwicklung in Verbindung mit einem zunehmenden Preisdruck setzt den Unternehmen massiv zu (Saldo -38 nach -2). Nur noch jedes elfte Unternehmen berichtet von einer guten aktuellen Ertragslage, fast die Hälfte (47 Prozent) bezeichnen diese als schlecht. Aus derzeitiger Sicht sollte es gelingen, das enorme Ausmaß der Ertragserosion während des zweiten Halbjahres zumindest zu stoppen (Saldo +7 nach -49 Punkten). Nur eine Minderheit von 28 Prozent erwartet aber eine Verbesserung der Ertragsaussichten bis Jahresende.

Schuldentragfähigkeit Österreichs derzeit nicht gefährdet

„Trotz massiver budgetärer Belastungen wird die COVID-19-Krise aus heutiger Sicht kein Ausmaß annehmen, welches die Schuldentragfähigkeit der Republik Österreich überfordern würde. Weder Steuererhöhungen noch Ausgabenkürzungen erscheinen daher sinnvoll, um die Belastungen auszugleichen“, so der IV-Chefökonom. Erstere würden die Investitionsneigung aushöhlen, zweitere die unsicherheitsbedingte Konsumzurückhaltung verstärken. Zielführend wäre die Rückkehr zu einem ausgeglichenen Budgetpfad, sobald die konjunkturelle Situation es zulässt. „Dazu reicht es aus, die Ausgabendynamik unter der Einnahmendynamik zu halten. Auf diese Weise wäre die Rückführung der entstandenen Schulden noch vor 2030 erreichbar“, so Helmenstein abschließend.

Die IV-Konjunkturumfrage: Zur Befragungsmethode

An der jüngsten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung beteiligten sich 392 Unternehmen mit rund 266.900 Beschäftigten. Bei der Konjunkturumfrage der IV kommt folgende Methode zur Anwendung: Den Unternehmen werden drei Antwortmöglichkeiten vorgelegt: positiv, neutral und negativ. Errechnet werden die (beschäftigungsgewichteten) Prozentanteile dieser Antwortkategorien, sodann wird der konjunktursensible „Saldo“ aus den Prozentanteilen positiver und negativer Antworten unter Vernachlässigung der neutralen gebildet.