"Deindustrialisierung ist zur Realität geworden"

Unser aller Wohlstand in Gefahr? Elmar Hartmann (IV Vorarlberg) sprach mit der NEUE am Sonntag (01.06.) über Standort, Steuern sowie Bürokratie und mit deutlichen Worte für die Regierung. Dem flammenden Appell schließen sich Martin Blum (Blum Gruppe) und Stefan Oberhauser (Gebrüder Weiss) an. 

Österreich ist laut EU-Wirtschaftsprognose das einzige Land in der Union, dessen Wirtschaft schrumpfen wird. Wo verorten Sie die Gründe?

Elmar Hartmann: Diese Grafik zeigt schonungslos, wo wir stehen – und sie zeigt auch, wohin wir uns entwickeln, wenn wir nicht rasch gegensteuern. Das ist eine Trendprognose, die auf aktuellen Entwicklungen basiert. Wenn wir nichts tun, bleibt das nicht ohne Folgen. Diese Grafik ist ein Weckruf. Es geht nicht darum, ob man das schön findet oder nicht. Sie zeigt klar: Österreich ist auf dem Weg in eine dauerhafte Rezession. Und das lässt sich nur ändern, wenn man endlich handelt – mutig, engagiert und konsequent.  

Was sind die Hauptursachen für diese Entwicklung?

Hartmann: Es gibt mehrere Ursachen, aber vieles ist hausgemacht. Wir haben in den letzten Jahren Maßnahmen gesetzt, die zwar gut gemeint waren, aber in Summe die Wettbewerbsfähigkeit massiv geschwächt haben. Die Kostenstruktur ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Löhne, Abgaben, Energie – alles ist gestiegen. Natürlich wurde versucht, Kaufkraft zu erhalten, aber das hat nur bedingt funktioniert. Die Nettohaushaltseinkommen sind laut Statistik sogar gestiegen, aber das spüren viele nicht, weil gleichzeitig die Preise massiv angezogen haben. Und wenn die Löhne steigen, steigen auch die Personalkosten. Das ist an sich nichts Schlechtes – aber im internationalen Vergleich wird man dadurch schnell unattraktiv.  

Sie sprechen die Energiepreise an – warum sind die in Österreich so hoch?

Hartmann: Wir haben zwar viel Wasserkraft, aber wir sind auch von fossilen Energieträgern abhängig. Und da zahlen wir – trotz aller Bemühungen – im Vergleich zu anderen Regionen, etwa den USA, den vielfachen Preis. Das ist für energieintensive Betriebe eine Katastrophe. Die logische Konsequenz ist: Man wandert ab. Und das passiert auch. Die Deindustrialisierung ist keine Drohung, sie ist Realität. Wenn ein Standort zu teuer ist, wird verlagert. Und diese Arbeitsplätze kommen nicht zurück – nicht in zwei, nicht in zehn Jahren.  

Welche Forderungen stellt die Industrie konkret?

Hartmann: Erstens: Die Lohnnebenkosten müssen runter – mindestens drei Prozentpunkte. Zweitens: Die Energiepreise müssen international wettbewerbsfähig werden. Drittens: Die Bürokratie muss radikal vereinfacht werden. Wir sprechen von einem Bürokratieabbau von 75 Prozent. Das klingt viel, aber wenn Sie sehen, wie viele Formulare, Berichte und Genehmigungsverfahren Unternehmen heute durchlaufen müssen, ist das gerechtfertigt.  

Wie äußert sich das?

Hartmann: Ein Beispiel: Wenn ein Unternehmen ein Gebäude errichten will und sich das Verfahren um zwei Jahre verzögert, dann bedeutet das bei einer angenommenen Inflation von fünf Prozent eine Mehrbelastung von einer Million Euro – ohne zusätzlichen Nutzen. Das ist absurd. Und das betrifft nicht nur große Projekte. Jeder Betrieb leidet darunter, dass Verfahren zu lange dauern, dass Regelungen sich überlagern und dass ständig neue Verpflichtungen hinzukommen – sei es durch das Lieferkettengesetz, durch Transparenzrichtlinien oder zusätzliche Berichtspflichten.  

Gibt es auch externe Faktoren, auf die man keinen Einfluss hat?

Hartmann: Natürlich. Niemand in Österreich kann verhindern, dass ein amerikanischer Präsident Zölle erhebt. Aber man kann sich vorbereiten. Vieles von dem, was passiert, war angekündigt – etwa im Wahlkampf. Dass dann trotzdem alle überrascht tun, ist unverständlich. Die EU hat da in den letzten Jahren übrigens gar nicht so schlecht reagiert. Wichtig wäre, dass Europa als Einheit auftritt. Nicht jedes Land für sich, sondern mit einer gemeinsamen Stimme. Nur so wird man auch auf Augenhöhe wahrgenommen.  

Welche Rolle spielt dabei die Handelsstrategie?

Hartmann: Eine sehr große. Wir brauchen neue Märkte. Mercosur wäre fertig verhandelt – man müsste es nur umsetzen. Gerade wenn sich die Beziehungen zu den USA oder China verschlechtern, braucht es Alternativen. Und das ist keine theoretische Diskussion – das ist existenziell. Unsere Exportwirtschaft lebt vom Zugang zu internationalen Märkten.  

In Deutschland wird stark aufgerüstet. Wie sehen Sie das als Vertreter der Industrie in einem neutralen Österreich?

Hartmann: Grundsätzlich wäre es mir lieber, wenn man in Bildung oder Infrastruktur investiert. Aber angesichts der geopolitischen Lage ist es nachvollziehbar, dass man auch die Rüstungsindustrie stärkt. Das ist keine Frage von Moral, sondern von Realität. Wenn es eine Nachfrage gibt, wird produziert. Wichtig ist nur: Es darf nicht auf Dauer das dominierende Thema sein. Wir brauchen langfristige Investitionen in Bereiche, die zukunftssicher sind – nicht nur kurzfristige Aufrüstung.  

Auch Infrastrukturprojekte in Vorarlberg stehen immer wieder zur Debatte – Stichwort Stadttunnel, S18 oder Dornbirn Nord und der Güterbahnhof …

Hartmann: Diese Projekte sind seit Jahren auf der Agenda. Und es wurde demokratisch entschieden, dass sie umgesetzt werden. Dann sollte das auch passieren. Ständige Verzögerungen kosten Geld und Nerven. Infrastruktur ist ein zentraler Standortfaktor – für Unternehmen genauso wie für Privatpersonen. Wenn man im Stau steht, weil der Ausbau stockt, betrifft das alle. Dazu kommt: Jedes Projekt, das jetzt nicht umgesetzt wird, wird in ein paar Jahren doppelt so teuer.  

Und die Bahn?

Hartmann: Der Ausbau des Schienennetzes ist entscheidend – für Umwelt, Logistik und Lebensqualität. Jeder Lkw, der durch einen Zug ersetzt wird, entlastet die Straßen. Das sollte eigentlich Konsens sein.  

Was braucht der Standort Vorarlberg ganz konkret?

Hartmann: Kostensenkung, Vereinfachung, Planbarkeit. Die Landespolitik kann hier selbst vieles tun – etwa bei Verfahren, Raumordnung oder Wirtschaftsförderung. Wir müssen weg vom Gedanken, dass nur Wien oder Brüssel zuständig sind. Auch Vorarlberg hat Spielraum. Und den muss man nutzen.  

Viele Industriebetriebe haben von Coronaförderungen profitiert. Muss sie etwas zurückgeben?

Hartmann: Damals war die Lage außergewöhnlich. Niemand wusste, wie man mit der Situation umgehen soll. Ja, es gab großzügige Hilfen – aber auch, weil niemand wusste, wie lange die Krise dauert. Im Nachhinein lässt sich vieles kritisieren. Aber das war damals notwendig. Wichtig wäre nur gewesen, Maßnahmen mit Ablaufdatum zu versehen – mit sogenannten Sunset-Klauseln. Unternehmen zahlen heute wieder volle Steuern, tragen Risiken und investieren in den Standort. Und das ist entscheidend, um den Wohlstand zu sichern.  

Aber die Arbeitslosigkeit in der Industrie steigt wieder …

Hartmann: Leider. Allein im März wurden über 57.000 Industriearbeitsplätze abgebaut – österreichweit. Das ist alarmierend. Industriejobs sind gut bezahlt, schaffen Wertschöpfung und sichern Technologiekompetenz. Wenn wir diese Arbeitsplätze verlieren, verlieren wir mehr als nur Zahlen – wir verlieren Zukunft.  

Welche Rolle spielt die Bildung?

Hartmann: Eine ganz zentrale. Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft. Wir haben in Vorarlberg eine gute Fachhochschule und engagierte Unternehmen. Aber das reicht nicht. Der Staat muss mehr tun. Wir brauchen gezielte Förderung von MINT-Fächern, mehr duale Studiengänge und bessere Ausstattung. Die Industrie unterstützt das – etwa durch Kooperationen mit Hochschulen. Aber Bildung darf nicht nur wirtschaftlich gedacht werden. Sie hat auch eine gesellschaftliche Aufgabe.  

Digitalisierung und KI – Chance oder Risiko?

Hartmann: Beides. Aber vor allem eine Chance. Jede technologische Entwicklung hat zunächst Ängste ausgelöst. So war es bei der Dampfmaschine, beim Computer, beim Internet. Und trotzdem hat jede dieser Entwicklungen mehr neue Jobs geschaffen als alte vernichtet. So wird es auch bei KI sein. Entscheidend ist: Wir müssen gestalten. Blockieren bringt nichts. Wenn wir KI nicht aktiv nutzen, tun es andere – und überholen uns.  

Zum Abschluss – viele Menschen fühlen sich von der Politik und Wirtschaft nicht mehr abgeholt, gerade, wenn man an die Causa Benko oder den KTM-Konkurs denkt. Das Vertrauen schwindet. Wie begegnen Sie dem?

Hartmann: Vertrauen entsteht durch Klarheit, Verlässlichkeit und Konsequenz. Wenn jemand betrügt – wie bei gewissen Firmenpleiten –, dann muss das geahndet werden. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber wir dürfen nicht alle über einen Kamm scheren. Die Mehrheit der Unternehmerinnen und Unternehmer arbeitet ehrlich, investiert, schafft Arbeitsplätze. Es liegt auch an der Politik, klare Rahmenbedingungen zu schaffen und die Regeln für alle verbindlich zu machen – ohne Ausnahmen für die Großen.  

DREI KONKRETE FORDERUNGEN

IV nimmt die Regierung in die Pflicht:

  1. Senkung der Lohnnebenkosten um mindestens drei Prozentpunkte
  2. Energiepreise auf internationales Niveau bringen, um wettbewerbs­fähig zu bleiben
  3. Radikaler Abbau einer überborden­den Bürokratie, um Unternehmen zu entlasten. Von der Industrie gefordertes Ziel: 75 Prozent  

„LOGISTIK ALS HERZ-UND KREISLAUFSYSTEM“

Die Logistik ist das Herz-Kreislaufsys­tem unserer Wirtschaft. Damit sie zu­verlässig schlagen kann, braucht es eine leistungsfähige, moderne Infrastruktur. Für uns als Logistikunternehmen sind diese Weichenstellungen entschei­dend: Eine hochrangige Straßenver­bindung zwischen Vorarlberg und der Schweiz, ein vollständiger Autobahn­anschluss in Wolfurt/Lauterach, die Di­gitalisierung der Zollabwicklung sowie der gezielte Ausbau der Bahnverbin­dung Richtung Deutschland. Gerade in einem grenzüberschreitend vernetzten Wirtschaftsraum wie Vorarlberg gilt es jetzt, mit Mut und Weitblick gemein­sam Lösungen umzusetzen. Stefan Oberhauser (Gebrüder Weiss)  

„ES LIEGT AN DER POLITIK, DIE HAUSAUFGABEN ZU MACHEN“

Wir erwirtschaften 97 Prozent des Um­satzes im Ausland. Daher ist es für uns von zentraler Bedeutung, dass der Industrie­standort Österreich und auch Europa in Sachen globaler Wettbewerbsfähigkeit wieder Boden gutmachen. Die Gründe für den Rückfall in den Wettbewerbs­rankings sind zu einem guten Teil haus­gemacht – sie liegen u.a. in der höheren Inflation, den steigenden Energiekosten, der überbordenden Bürokratie und den hohen Abgaben auf Löhne und Gehälter. Um die Lage zu verbessern, tragen wir unseren Teil bei und kümmern uns um jene Themen, die wir selbst mit unseren Mitarbeitenden beeinflussen können: innovative Produkte und Services, Lie­ferketten, Produktionsstandorte sowie Flexibilität für unsere Kunden. Für das Sichern regionaler Arbeitsplätze und des Lebensstandards braucht es aber nicht nur erfolgreiche Unternehmen, sondern auch die passenden Rahmen­bedingungen. Wir brauchen eine starke Europäische Union, die nicht ständig die Bürokratielast erhöht, sondern wieder verstärkt im Geiste ihrer Gründungsidee handelt und diese weiterentwickelt: ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einer starken geopolitischen Positionierung. Es liegt nun mehr denn je an der Poli­tik, die Hausaufgaben zu machen. Erste Schritte sind bereits gesetzt. Um weiter­hin erfolgreich zu sein, muss noch deut­lich mehr kommen. Martin Blum (GF Blum Gruppe)